Mit »wissenschaftlichem Sozialismus« in den Staatsbankrott

 

 

 

Eine Analyse der realsozialistischen Wirtschaft zeigt, dass eine kommunistische Ökonomie nicht mit Befehl und Gehorsam, Geld und Markt auf einen vernünftigen Weg gebracht werden kann. Ein Argument gegen Planwirtschaft ist der Zusammenbruch des Realsozialismus nicht.

 

 

 

Aus: Inex (Hg.): Nie wieder Kommunismus? Münster 2012

 

 

1. Abschied von der Planwirtschaft?

 

 

 

Planwirtschaft hat keinen guten Ruf. Die dominierende bürgerliche Wirtschafts- und Geschichtswissenschaft meint erkannt zu haben, dass, wen wundert’s, Markt und Preise in der Planwirtschaft nicht funktionieren, deshalb niemand wisse, wie viel von welchen Gütern hergestellt werden solle, und Ineffektivität im Modell der Planwirtschaft daher angelegt sei. Sie sei vielleicht geeignet, »Stahlwerke aus dem Boden zu stampfen, mit einfachsten technischen Mitteln Staudämme zu errichten und Kanäle durch die Wüste zu ziehen«, nicht aber »eine moderne Volkswirtschaft zu regulieren«.[1]

 

Das ist natürlich bösartig und stimmt außerdem, zumindest so schlicht, nicht. Als »der Russe« 1957 den ersten Satelliten und 1961 den ersten Menschen ins All schoss, da gab es einen Schock in der kapitalistischen Welt: Die UdSSR hatte ganz offensichtlich technologisch aufgeschlossen. Und auch die Wasserstoffbombe, was immer man politisch von einem solchen Werkzeug hält, haben die Sowjets nicht aus dem Sumpf gebuddelt. Auch nach Jahrzehnten realsozialistischer Herrschaft waren sie anscheinend zu beachtlichen technischen Leistungen in der Lage.

 

Die radikale Linke hat sich aus anderen Gründen von der Planwirtschaft weitgehend verabschiedet.. Neben einer im Vergleich zum Kapitalismus bescheidenen Ausstattung der Bevölkerung mit Konsumgütern und gleichzeitigem de-facto-Arbeitszwang hat sich der Realsozialismus durch eine rigide Form staatlicher Herrschaft ausgezeichnet, hat Kriege geführt, grausame Gefängnisse betrieben, jede Opposition brutal verfolgt. Es könnte, so die verbreitete Befürchtung, im zentralen Plan selbst schon ein Moment von Über- und Unterordnung angelegt sein, so dass ein gesellschaftlicher Plan ohne Herrschaft gar nicht zu bekommen ist eine auf keinen Fall abwegige Fragestellung. Sie hat zahlreiche Versuche motiviert, ein kommunistisches Gesellschaftsmodell ohne einen zentralen Wirtschaftsplan wenigstens gedanklich zu entwickeln. Mag das Motiv auch nachvollziehbar sein, so sind die resultierenden Gesellschafts- oder Wirtschaftsentwürfe[2] entweder ökonomisch naiv, politisch unterbelichtet oder, meistens, beides.[3] Planwirtschaft ist deshalb auch nach dem Scheitern des Realsozialismus der zentrale (erst mal abstrakte) Gegenentwurf zur kapitalistischen Wirklichkeit; das Herrschaftsproblem bleibt.

 

Auch die bürgerliche Kritik am Realsozialismus hat ein Argument auf ihrer Seite. In Kapitalismus ist keine Absprache nötig, wenn die Produktion erweitert oder eine Schule gebaut werden soll. Institutionen wie Privateigentum an Produktionsmitteln, Geld und Markt (mit der damit verbundenen Drohung des ökonomischen Untergangs des Kapitalisten und des Lohnabhängigen) sind für die Reichtumsproduktion tatsächlich ungeheuer förderlich. Was die bürgerliche Wirtschafts- und Gesellschaftswissenschaft als Effektivität des Kapitalismus lobt, ist damit aber auch gerade dass, was den Kapitalismus menschenfeindlich macht: was produziert wird, wie es produziert wird, welcher Arbeit Leute nachgehen (wenn sie denn einen Abnehmer für ihre Arbeitskraft finden) und zu welchen Bedingungen sie das tun. Alles das erfordert im Kapitalismus zwar die Entscheidungen von Menschen, aber diese Entscheidungen werden getroffen von vereinzelten bürgerlichen Subjekten unter der Bedingung kapitalistischer Verwertung. Die der Kapitalverwertung innewohnende Gewalt sorgt dafür, dass Entscheidungen schnell und effektiv getroffen und, nach Maßgabe der Systemlogik, falsche Entscheidungen (Fehlinvestitionen, eine falsche Berufsausbildung usw.) schnell bestraft werden: durch Pleite, Arbeitslosigkeit, Elend. Selbst wenn »Fairness« und »Chancengleichheit« die Welt regieren würden, also alle die gleichen Startbedingungen hätten, wäre unter diesen Bedingungen zwar nicht sicher, wer über die Klinge springt, dass der ökonomische Prozess permanent Verlierer produziert, aber schon.

 

 

 

Der Realsozialismus trat mit dem Anspruch an, eine zugleich vernünftige und überlegene Alternative zum Kapitalismus zu sein. Einlösen konnte er diesen Anspruch nicht. Das hat dazu geführt, dass von Teilen der radikalen Linken bestritten wird, dass das bolschewistische Programm und seine Umsetzung überhaupt Vernünftiges enthalten hätte. Wenn man sagen könnte, dass nicht nur das Ergebnis, sondern schon die Ziele der ganzen Ex-Sozialdemokraten von 1917 so falsch waren, dass ihre Realisierung gar nichts Gutes hervorbringen konnte, hätte das den strategischen Vorteil, dass wir mit einem klüger bestimmten Ziel, also allein mit etwas mehr Gelehrtenschweiß, davor gefeit wären, ein ähnliches Desaster zu produzieren.

 

Und es stimmt schon: Vermutlich würde man als vernünftiger Kommunist in der Gesellschaft, die Lenin und seine Genossen vor 1917 anstrebten, nicht gerne leben wollen: Ordnung und Sauberkeit fanden sie erstrebenswert, kulturelle und sexuelle Abweichung war ihnen verdächtig, Arbeit veredelte ihrer Ansicht nach den Menschen, Freiheit dachten sie sich als »Einsicht in die Notwendigkeit«.

 

Doch ganz so einfach ist es auch wieder nicht. Neben autoritärem Spießerkram und der Bereitschaft, für das angeblich objektive Interesse der Arbeiterklasse so ziemlich jedes Gewaltmittel anzuwenden, gab es in den bolschewistischen und später leninistischen Zielvorstellungen auch emanzipative Konzepte, und zwar an zentraler Position. Es ist, wenn man z.B. die späte DDR kennt, verblüffend zu lesen, was die Bolschewiki in den Jahren um 1917 alles wollten, wenigstens auf mittlere Sicht. Dass daraus dann etwas wurde, was man als Kommunist nicht wollen kann, macht die Sache schwierig: Warum wurden die emanzipativen Elemente im Realsozialismus nicht realisiert, warum wurden sie nach und nach zu bloßen Legitimationsformeln?

 

Die im Folgenden vertretene These lautet, dass die konkreten historischen Bedingungen, unter denen der Realsozialismus sich entwickelte, gerade die problematischen Elemente im leninistischen Programm stärkten und die emanzipativen schwächten. Wenn man davon ausgeht, dass auch bei einer nächsten revolutionären Umwälzung allerhand divergierender Kram in den Köpfen spuken wird, und die Bedingungen ebenfalls nicht rosig sein werden, ist dies ein nicht zu vernachlässigender Punkt: Können wir uns, kann sich die radikale Linke darauf verlassen, dass im Erfolgsfall nicht Ähnliches passieren wird? Nein, besser nicht. Aber sie sollte sich vorbereiten.

 

 

 

 

 

2. »Ja mach nur einen Plan...« – Phasen der realsozialistischen Planwirtschaft

 

 

 

Hatten sie einfach zu wenig Markt? Das ist bis hin zu Sahra Wagenknecht der Mainstream in der Betrachtung des Realsozialismus. Oder hätten die realsozialistischen Führungen schlicht ernst machen müssen mit dem Plan, ohne Herrschaft, ohne Geld, und es wäre alles glatt gegangen nach der Revolution? Das sagen Linksradikale, die lieber nicht zu viel nachdenken wollen. Inwiefern beides falsch ist, soll im Folgenden an einigen Etappen der realsozialistischen Geschichte nachvollzogen werden.

 

 

 

 

 

Die Revolutionsphase

 

 

 

Ohne Zweifel finden sich in der bolschewistischen Tradition – wie in der der alten Sozialdemokratie überhaupt – genug Anlässe für eine Kritik, sowohl der Theorie als auch der politischen Praxis:[4] Eine defizitäre Kapitalismuskritik, die hinter Marx zurückfiel, eine mechanistische Vorstellung von Gesellschaft und Geschichte, Freiheit als Einsicht in eine quasi naturgesetzliche Notwendigkeit. Es kann also bei einer historischen Betrachtung des Realsozialismus nicht um eine Entschuldigung derjenigen gehen, die ihn theoretisch und praktisch auf den Weg gebracht haben.

 

Doch findet sich in den Jahren um die Revolution durchaus Ambivalentes. So schreibt Lenin in Staat und Revolution, 1917 noch vor der Oktoberrevolution verfasst, dass mit der erfolgreichen Revolution die »erste Phase der kommunistischen Gesellschaft« beginne. Da das Privateigentum an den Produktionsmitteln abgeschafft sein werde, gebe es keine Ausbeutung. Nötig seien allerdings Rechnungsführung und Kontrolle, die Arbeiter bekämen zudem ein Entgelt nach Arbeitsstunden, was den Einzelnen ungleiche Gütermengen zuweise. Auch Staat und Recht könnten in dieser Phase noch nicht absterben. Hier ist schon einiges angelegt, was den Realsozialismus später hässlich machte. Doch diese Bedingungen seien, so Lenin, ein Missstand, wenn auch ein unvermeidlicher: »Diese Fabrikdisziplin, die das siegreiche Proletariat nach dem Sturz der Kapitalisten, nach Beseitigung der Ausbeuter, auf die gesamte Gesellschaft erstrecken wird, ist nichts weniger als unser Ideal oder unser Endziel, sie ist nur eine Stufe, die notwendig ist zur radikalen Reinigung der Gesellschaft von den Niederträchtigkeiten und Gemeinheiten der kapitalistischen Ausbeutung, eine Stufe, um weiter vorwärtsschreiten zu können.«[5]

 

Auch wenn man sich vor der Leichtigkeit gruseln kann, mit der hier für das Endziel ein Tal der Tränen in Gestalt einer Übergangsgesellschaft in Kauf genommen wird, ist nicht zu bestreiten, dass der Verfasser sich als Ziel etwas anderes vorstellte als das, was wir rückblickend als Realsozialismus kennen.

 

Das ist bei anderen Autoren noch deutlicher: »Die kommunistische Produktionsweise setzt […] nicht die Produktion für den Markt voraus, sondern für den eigenen Bedarf. Nur erzeugt hier nicht jeder einzelne für sich selbst, sondern die ganze riesengroße Genossenschaft für alle. Folglich gibt es hier keine Waren, sondern bloß Produkte. Diese erzeugten Produkte werden nicht gegeneinander eingetauscht; sie werden weder gekauft noch verkauft. Sie kommen einfach in die gemeinschaftlichen Magazine und werden denjenigen gegeben, die sie benötigen. Das Geld wird also hier unnötig sein.«[6]

 

Das schrieben Bucharin und Preobraschenskij, zu dieser Zeit beide »Linke« in der Parteiführung[7], 1919 im ABC des Kommunismus. Es herrschte Bürgerkrieg. Die Oktoberrevolution war für die Bolschewiki relativ überraschend gekommen, hatte doch noch kurz zuvor in der Partei ein Streit darüber getobt, ob man in einem unterentwickelten Land wie Russland nicht vor einer sozialistischen Revolution die volle Durchsetzung einer bürgerlichen Gesellschaft abwarten müsse. Trotzdem reagierten sie schnell. Das Privateigentum an den wesentlichen Produktionsmitteln (Industrie, Großgrundbesitz, Banken, Verkehrswesen) wurde abgeschafft, Produktion, Verteilung und Verbrauch wurden zentral zu steuern versucht.

 

Doch auch Bucharin und Preobraschenskij sahen keine Möglichkeit, die gesamte Ökonomie unter direkte staatliche Kontrolle zu bringen. Eine »Nationalisierung« der Kleinindustrie sei »unter keinen Umständen zulässig, erstens, weil wir selbst nicht imstande wären, die zersplitterte Kleinproduktion zu organisieren, und zweitens, weil die kommunistische Partei den vielen Millionen Kleinunternehmern kein Leid zufügen will und darf.«[8]

 

Die etwas verklausulierte Begründung ist interessant. Erstens trauten die Revolutionäre sich die Übernahme der Industrie nicht zu – schließlich hatten sie nicht einmal überall Leute vor Ort – und, zweitens, waren sie bestrebt, möglichst viele derjenigen auf ihre Seite zu ziehen, die sich bisher noch abwartend oder feindlich verhielten, und das war die Mehrheit.

 

Ähnliche Probleme gab es in der Landwirtschaft. Das »Dekret über Grund und Boden« vom 26. Oktober 1917 überführte zwar das private Grundeigentum in den Besitz von Dorfagrarkomitees und Kreisbauernsowjets; de facto hatte aber nun jeder Landbewohner das Recht auf einen Anteil am Boden, was die Entstehung kleiner Privatwirtschaften begünstigte. Auch hier war die Angst vor einer Opposition der Bauern entscheidend, obwohl eine zersplitterte Agrarwirtschaft sich mit einem Zentralplan schlecht vertrug.

 

Die ohnehin schwache industrielle Basis wurde vom Bürgerkrieg weiter in Mitleidenschaft gezogen. Die Zahl der Arbeiter war zwischen 1913 und 1920 von 2,6 auf 1,6 Millionen gesunken, die Stahlproduktion von 4,3 auf 0,2 Millionen Tonnen, die Erdölförderung von 10,3 auf 3,9 und die der Kohle von 29,2 auf 8,7. Das bedeutete, dass Industrieprodukte nicht annähernd in ausreichender Menge hergestellt werden konnten, weder Produktionsmittel zum Ausbau der Industrie noch Werkzeuge, Maschinen und Konsumgüter für die Landbevölkerung. Die Folge war, dass das, was die Städte benötigten, oft ohne Gegenleistung durch bewaffnete Arbeitercorps auf dem Land requiriert wurde. Ein großer Teil der landwirtschaftlichen Produkte aber wurde auf dem illegalen Markt verkauft. Nach offiziellen Statistiken betrug der Anteil der Lebensmittel, die 1919 offiziell auf Bezugsscheine erworben wurden, in Arbeiterfamilien nur 36 Prozent der gesamten Lebensmittelversorgung, in Angestelltenfamilien 33 Prozent. Der Großteil der Versorgung lief über den Schwarzmarkt.[9]

 

Im Herbst 1920 beschloss der von der Linken dominierte 8. Rätekongress noch einmal eine Ausweitung des administrativen Wirtschaftssystems auf das Land. Die Bestellung der Bodenfläche sollte durch einen staatlichen Aussaatplan geregelt werden, der für alle Bauern zur Pflicht erklärt wurde. Doch es gab etwa 18 Millionen bäuerliche Betriebe, die nicht wirklich gezwungen werden konnten, sich an einen Plan zu halten, den irgendwer in Moskau beschlossen hatte. Die Bauern weigerten sich, weiter ohne realen Gegenwert Lebensmittel in die Städte zu liefern. Der Getreidemarkt brach zusammen, wieder kam es zu Hungersnöten. Infolge von Brennstoffmangel blieben Wohnungen, Fabriken, Werkstätten und Büros trotz des harten Winters ohne Beheizung. Viele Arbeiter verließen für Tage ihre Maschinen, um in der Umgebung Holz zu sammeln, oder um im Tausch für Materialien, die sie aus den Fabriken mitgenommen hatten, Nahrungsmittel aufzutreiben.

 

Es kam zu mehreren großen Streiks der Petrograder Industriearbeiter und schließlich zum Aufstand der Matrosen von Kronstadt, die den bestehenden Räten absprachen, den Willen der Arbeiter und Bauern zu repräsentieren, Neuwahlen mit geheimer Stimmabgabe forderten und sich mit protestierenden Bauern solidarisch erklärten. Viele Linke der Bolschewiki brachte das dazu, aus Angst vor einem endgültigen Scheitern der Revolution, auf die neue Linie umzuschwenken, die Lenin 1921 in die Partei trug.

 

 

 

 

 

Die »Neue Ökonomische Politik«

 

 

 

Auf die Unruhen reagierten die Bolschewiki mit Gewalt. Der Aufstand von Kronstadt wurde niedergeworfen. Die Konzentration aller wirtschaftlichen Kräfte auf die Versorgung der Roten Armee trug dazu bei, dass bis Ende 1919 die oft spontan entstandenen Betriebskommittees ihre Unabhängigkeit weitgehend eingebüßt hatten.

 

Doch auf ökonomischem Gebiet zog der X. Parteitag im März 1921 noch eine andere Konsequenz, die von großen Teilen der Bolschewiki nur widerstrebend mitgetragen wurde. Das staatliche Getreidemonopol wurde aufgehoben und die Ablieferungspflicht durch eine Steuer ersetzt. Die Bauern konnten nun, um Gewinne zu machen, ihren Überschuss auf den Markt bringen. Sie durften wieder Land pachten und Arbeiter beschäftigen. Während Finanz- und Transportwesen, Schwerindustrie sowie der Außenhandel unter der Kontrolle des Staates blieben, konnten kleinere und mittlere Industriebetriebe wieder privatisiert werden. Das ging so weit, dass sogar Betriebe an ihre ehemaligen Eigentümer zurückgegeben wurden, soweit sie die Revolution überlebt hatten und nicht emigriert waren. Das Ziel dieser Politik war, das ökonomische Eigeninteresse der Privatbesitzer für die Revolution einzuspannen, da Überzeugung und Gewalt an ihre Grenzen gestoßen waren.

 

Die Maßnahmen hatten Erfolg. Die Produktion der von der »Neue Ökonomische Politik« (NÖP) erfassten Wirtschaftssektoren erreichte bereits 1924 ca. 90 Prozent des Vorkriegsstandes. Dagegen blieb ausgerechnet die Produktion in der staatlich gelenkten Schwer- und Großindustrie eklatant zurück, nicht zuletzt, weil Ausrüstungsgüter fehlten, für deren Import man wiederum Devisen gebraucht hätte.

 

Es war dabei nicht so, dass die Bolschewiki einfach so Markt und Sozialismus für eine harmonische Einheit gehalten hätten: Lenin gab zu, dass die Neue Ökonomische Politik, »vom Standpunkt unserer Linie […] nur als eine sehr schwere Niederlage und ein Rückzug bezeichnet werden kann.«[10]Der Versuch sich »den Kapitalismus zunutze zu machen« sei dadurch motiviert, dass »wir noch nicht imstande sind, den unmittelbaren Übergang von der Kleinproduktion zum Sozialismus zu verwirklichen.«[11]

 

Dass man sich nicht allein auf die Marktkräfte verlassen wollte, wird auch daran deutlich, dass bereits im Februar 1921 die Staatliche Plankommission (Gosplan) gegründet wurde, mit der Aufgabe, einen einheitlichen gesamtstaatlichen Wirtschaftsplan auszuarbeiten. Doch passten die Verteidigung der wirtschaftlichen »Kommandohöhen« durch die zentrale Führung und das Mittel der privatwirtschaftlichen Bereicherung nicht gut zusammen.

 

Im Vergleich zur Lage unmittelbar nach dem Bürgerkrieg führte die NÖP-Periode bis 1927 eine wenn auch krisengeschüttelte Erholung der Landwirtschaft herbei, deren Ausstattung mit Produktionsmitteln allerdings weiterhin gering war. Die Linke hatte schon früh vor den Folgen einer durch die NÖP hervorgerufenen sozialen Differenzierung auf dem Land gewarnt, was von den »Rechten« und der Zentrumsgruppe um Stalin zurückgewiesen wurde. 1927 kam es wieder zu einem Getreidemangel, zumindest zu einem Mangel an auf dem Markt gehandelten Getreide. Die größeren Bauern gewannen aufgrund ihrer sozialen Stellung auch politisch an Einfluss in den Dörfern. Hinzu kam, dass die Industrieproduktion noch immer nicht ausreichte, um die Nachfrage der Bauern nach Industriewaren zu befriedigen, so dass es sich für sie nicht unbedingt lohnte, Getreide auf den Markt zu bringen. Getreide wurde wieder knapper, die Getreidepreise stiegen.

 

Damit war die Führung vor die Alternative gestellt, den Getreideengpass mit marktwirtschaftlichen Mitteln zu überwinden – oder mit Zwangsmaßnahmen, also mit Maßnahmen gegen den Markt. Auch wenn sich eine durchaus starke Strömung für eine Ausweitung der NÖP als Instrument gegen die Krise aussprach (die Parteilinke war von Stalin schon vorher ausgeschaltet worden), entschied sich die bereits bestimmende Gruppe um Stalin für Preisfestsetzungen und die Beschlagnahme von Getreide.

 

In einem partiell marktwirtschaftlichen System haben Beschlagnahmungen und Preisfestsetzungen eine destabilisierende Wirkung. Auch die »Mittelbauern«, die in der Summe über das meiste Überschussgetreide verfügten, und zum Teil selbst kleine Bauern, waren von Repressalien betroffen. Die Folge war eine erhebliche Ausdehnung einer antisowjetischen Stimmung auf dem Dorf und eine weitergehende Verweigerung der Landbevölkerung gegenüber einer Einbeziehung in die planwirtschaftlichen Versuche. Als die staatlichen Getreideverkäufer im Winter 1927/28 Schwierigkeiten hatten, in ausreichender Menge Getreide aufzukaufen, fasste die Führung den Beschluss, die NÖP durch einen scharfen Einschnitt zu beenden.

 

 

 

 

 

Stalinistische Ökonomie

 

 

 

Die stalinistische Wirtschaftspolitik der nächsten Jahre war vor allem durch drei Elemente gekennzeichnet: Verstaatlichung aller nichtagrarischen Wirtschaftszweige, Durchführung einer radikalen Industrialisierung, vor allem in Gestalt einer Förderung der Schwerindustrie, und zwangsweise Kollektivierung der Landwirtschaft.

 

Letztere ist vor allem aufgrund der Konsequenzen für die Landbevölkerung der wohl einschneidendste Schritt gewesen. Die Privatbauern wurden in mehreren Stufen gezwungen, Sowchosen und Kolchosen, beizutreten verschiedenen Formen der Kollektivbewirtschaftung. Technische Gerätschaften wurden in Maschinen-Traktoren-Stationen (MTS) zusammengefasst, von denen die Geräte ausgeliehen werden mussten. Der Widerstand gegen diese Maßnahmen war stark, auch bei den mittleren Bauern, die nach heutigen Maßstäben nicht einmal entfernt als Kapitalisten bezeichnet werden konnten. Dieser Widerstand wurde brutal gebrochen. Die Folge von Verhaftungen, Vertreibungen und anderen Zwangsmaßnahmen sowie Kompetenzmangel in den neu gebildeten Kollektivwirtschaften war eine riesige Hungersnot, der im ganzen Land mehreren Millionen Menschen zum Opfer fielen; genaue Zahlen sind nicht bekannt. Alleine in der Ukraine sollen etwa 3,5 Millionen Menschen gestorben sein.[12]

 

 

 

Der Versuch, Markt in der Planwirtschaft wirken zu lassen, wurde von Stalin also gründlich aufgegeben. Die Betriebe wurden zu großen Einheiten zusammengefasst, diese wiederum von einem Ministerium in Moskau direkt angeleitet. Von dort bekam man gesagt, wie viel eines bestimmten Gutes bis wann hergestellt werden musste. Die Rechnung in »Geld«, die Zahlung von Löhnen und die Behauptung, es handele sich bei den im Realsozialismus hergestellten Produkten zumindest teilweise um Waren im marxschen Sinne, wurde jedoch auch nach dem Ende der NÖP beibehalten. Nach Aussage der gängigen ökonomischen Lehrwerke wurde die »gesellschaftlich notwendige Arbeit« nun eben durch die Planbehörden »wissenschaftlich« bestimmt.[13] Die Behauptung, damit werde »das Wertgesetz« im Sozialismus »angewendet« sollte man allerdings nicht wörtlich nehmen. Bei Stalin selbst gibt es Hinweise, dass diese aus der Kapitalkritik stammenden Begriffe in einer Planwirtschaft nicht so recht passten,[14] doch ist zu vermuten, dass ihn das gar nicht sonderlich interessierte und seine Nachfolger, unter denen diese Begriffe immer wichtiger wurden, auch nicht. Die Rechnung in Preisgrößen sollte es für die Betriebsleitungen quasi natürlich erscheinen lassen, einen quantitativen Überschuss zu produzieren, unabhängig von der Frage, ob das theoretisch konsistent war. Es hatte für die Führung auch deshalb ein Moment von Rationalität, das hergebrachte Geldsystem in der Güterverteilung nicht anzutasten, weil gerade das scheinbar Naturgesetzliche, das die Lohnform in sich hat, von Vorteil ist, wenn es vor allem darum geht, den Konsum der Massen zu beschränken. Nachdem der schlimmste Mangel nach dem Weltkrieg überwunden war, konnten wieder Lohnsummen zur »freien« Verwendung ihrer Empfänger ausgezahlt werden anstatt knappe Güter zuzuteilen. Wirklich funktionieren konnte die »Anwendung des Wertgesetzes« natürlich nicht. Die Preise waren ja administrativ festgesetzt, schwankten nicht, und waren so nur ein anderer sprachlicher Ausdruck einer bestimmten Gütermenge.

 

Dass diese weitgehend ohne Marktelemente funktionierende Ökonomie bald nach dem Zweiten Weltkrieg in ernste Schwierigkeiten geriet, wird von bürgerlichen Historikern mit der Unflexibilität von Planwirtschaft überhaupt erklärt. Es muss angesichts dessen noch einmal daran erinnert werden, dass die Sowjetökonomie unter Stalin enorme Zuwächse bei allen Produktionskennziffern und insbesondere bei der Produktivkraft der Arbeit erzielte. Allerdings in einer besonderen historischen Phase, in der es durchgängig um Industrialisierung (Sowjetunion der dreißiger Jahre) bzw. Reindustrialisierung ging (aufgrund der Zerstörungen nach 1945).

 

Dieser ökonomische Fortschritt wurde rücksichtslos auf dem Rücken der Bevölkerung ausgetragen – erst in Russland, dann auch in den militärisch hinzugewonnenen »Bruderstaaten«. Es ist nicht davon auszugehen, dass die Führung um Stalin damit ein moralisches Problem hatte, ein legitimatorisches Problem allerdings schon, und das wurde sofort nach Stalins Tod im März 1953 als Problem des Herrschaftserhalts gesehen. Die Wohnungsnot in der UdSSR aufgrund von Zerstörungen und Landflucht, ein allgemein geringes Versorgungsniveau unter Vorkriegsstand und auch der Aufstand von 1953 in der DDR ließen Handlungsbedarf erkennen.

 

Das folgende Jahrzehnt war geprägt von Diskussionen, innerhalb der sowjetischen Führung, um die Frage, ob jetzt nicht endlich das Konsumniveau der Bevölkerung angehoben werden müsse. Die Gegner dieser Auffassung setzten sich vorerst durch, die Konzentration der Ökonomie auf Ausweitung der Produktion blieb bestehen. Umso besorgniserregender war, dass sich trotzdem gegen Ende der fünfziger Jahre herausstellte, dass die angestrebten Zuwächse nicht erreicht werden konnten und dadurch das Plangefüge insgesamt nicht aufging. Waren die Güter, die entgegen dem Plan nicht hergestellt worden waren, im Folgezeitraum an anderer Stelle verplant, ergab sich ein Schneeballeffekt, der den ganzen Plan zunichtemachen konnte. Überall im Realsozialismus zeigten sich Ende der fünfziger, Anfang der sechziger Jahre Probleme. Die Betriebsleitungen versuchten auf dem Verhandlungsweg »weiche«, also leicht zu erreichende Pläne zu vereinbaren, verschwiegen zu diesem Zweck Ressourcen und forderten mehr Investitionsgüter als materiell nötig, um eine Reserve für den Notfall der Planverfehlung anlegen zu können. Die Zuwächse in der Landwirtschaft blieben hinter dem Plan zurück, die Verschuldung im kapitalistischen Ausland stieg, in der DDR mussten Grundnahrungsmittel wie Butter wieder rationiert werden, die Versorgungslage schien in Teilbereichen schlechter zu sein als Mitte der fünfziger Jahre.

 

Es gab verschiedene plankonforme Reformversuche in dieser Zeit, die jedoch alle nicht viel bewirkten. Chruschtschow z.B. versuchte die Planung zu dezentralisieren, was zu massiven Koordinationsschwierigkeiten und verschärften Interessengegensätzen zwischen örtlichen Funktionären und der Zentrale führte.[15] Zu den systemkonformen Reformversuchen gehörte auch die Zwangskollektivierung der Landwirtschaft in der DDR 1960, die das Ende der Kleinbauernwirtschaft in der DDR bedeutete, aber erst einmal zu einer Flucht hunderttausender Bauern ins kapitalistische Westdeutschland führte.

 

 

 

 

 

Reformversuche der Ökonomie ab den sechziger Jahren

 

 

 

Es wurde deutlich, dass innerhalb der realsozialistischen Logik solche Reformen nicht ausreichten. Ein Meilenstein in der ökonomischen Diskussion war ein Artikel des russischen Ökonomen Liberman in der Prawda unter dem programmatischen Titel »Plan, Gewinn, Prämie« im September 1962.[16] Am Beispiel der Bekleidungsindustrie stellte er zentrale Probleme der an Mengenvorgaben und an quantitativer Planerfüllung orientierten »stalinistischen« Planwirtschaft dar. Insbesondere, so der Tenor, fielen das Einzelinteresse der Leitungen (Planerfüllung und Prämienerzielung) und das Interesse der Gesellschaft (möglichst effektive Produktion von Gebrauchswerten) auseinander.

 

Die von Liberman gezogene Konsequenz stellte ein Novum in der Planwirtschaft dar: Man solle die Betriebe über »ökonomische Hebel« dazu bringen, das zu tun, was sie tun sollen. Das Anreizsystem müsse so aussehen, dass die Betriebe, ja selbst die einzelnen Werkgruppen, ein ökonomisches Eigeninteresse an der Herstellung bedarfsgerechter Produkte entwickelten, was eine administrative Überwachung wie bisher weitgehend überflüssig mache. Während im Zuge der Neuen Ökonomischen Politik Marktelemente durch die partielle Zulassung klassisch kapitalistischen Wirtschaftens für den Sozialismus nutzbar gemacht werden sollten, würden nach dieser Vorstellung Marktelemente innerhalb des planwirtschaftlichen Systems selbst wirken, ohne dass es dafür wie 30 Jahre zuvor einer neuen Kapitalistenklasse bedurft hätte.

 

Die Herstellung eines solchen Eigeninteresses erforderte ökonomische, automatische Sanktionen im Falle eines »Fehlverhaltens« und damit eine Art Konkurrenz um Finanzmittel, um Produktionsmittel, um Absatz. Damit bekam »Geld« nun eine ganz neue Bedeutung. Preise sollten von nun an ein Ausdruck für den zur Produktion einer Sache erforderlichen gesellschaftlichen Aufwand sein, dann könne der Gewinn eines Betriebes darüber Auskunft geben, ob dieser im Sinne der Gesellschaft gut gewirtschaftet habe.

 

Von solchen Überlegungen ausgehende Reformversuche begannen nun in unterschiedlicher Stringenz in allen Ländern des RGW.

 

Am weitesten in diese Richtung ging wohl die DDR unter Ulbricht mit dem Neuen Ökonomischen System (NÖS) ab 1963. Es sollte aus den Volkseigenen Betrieben etwas machen, was man heute vielleicht Profitcenter nennen würde. Die Betriebe sollten über eigene Mittel verfügen dürfen und selbstständig Austauschbeziehungen eingehen. Prämien und vor allem Investitionen sollten nur noch zum Teil aus Staatsmitteln und überwiegend aus dem Gewinn des Betriebs finanziert werden. Die Staatszuschüsse wiederum sollten sich ebenfalls nach der Rentabilität der Betriebe richten

 

Wenn man ein Beispiel dafür sucht, wie Marktmechanismen in kürzester Zeit eine gesamtgesellschaftliche Planung ad absurdum führen, sollte man die DDR zu dieser Zeit analysieren. Der Gesamtplan blieb ja erhalten! Man dachte, man könne die Richtung der »unternehmerischen« Entscheidungen der Betriebe bzw. Kombinate planerisch antizipieren und die Rahmenbedingungen so gestalten, dass sie in der von den Planern gewünschten Richtung getroffen würden. Deshalb wurde immer wieder das System der nach wie vor geplanten Preise verändert. Die Preise sollten, zugleich Aufwandsanzeiger und Lenkungsinstrument sein, sollten sich also zugleich »natürlich« ergeben und bewusst so manipuliert werden, dass sie das Interesse der Betriebe in der gewünschten Richtung beeinflussten. Als Folge jagte eine Preisreform in den folgenden Jahren die nächste.

 

Es gab Branchen, die mit den neuen Anforderungen gut zurecht kamen und sich aufgrund der von ihnen hergestellten Güter leicht neue Absatzmöglichkeiten erschließen konnten, oder die schlicht Absatzpreise herausgehandelt hatten, die für sie besonders vorteilhaft waren. Im letzten Drittel der sechziger Jahre wurde den Betrieben schrittweise sogar die Möglichkeit eröffnet, durch Export ihrer Produkte Devisen einzunehmen und so ihr Betriebsergebnis zu verbessern. Das bedeutete aber bloß, dass sich den Eigeninteressen der Betriebe mehr Realisierungsmöglichkeiten boten. Es bedeutete nicht, dass sich diese Eigeninteressen nun harmonisch zu einem Gesamtplan vereinigt hätten. Es gab Branchen, denen sich diese neuen Möglichkeiten gar nicht boten, vor allem in der Schwerindustrie, die die eigenen Produktionsstätten mit Grundprodukten ausstatteten.

 

Die Branchen entwickelten sich daher zunehmend disproportional. Plötzlich hatten Betriebe finanziell die Möglichkeit zu expandieren, die nach rein planerischen Maßstäben gar nicht hätten expandieren sollen. Zwischen 1966 und 1970 verachtfachte sich das Volumen der Investitionskredite, die die Industrie aufnahm, ohne Rücksicht darauf, dass die Investitionsgüter bereits knapp waren. Der Plan für das Jahr 1971 drohte zu scheitern, wenn man nicht kreditfinanzierten Import aus dem kapitalistischen Ausland nutzte. Die Reform war gescheitert, was neben Ulbrichts Unbotmäßigkeiten gegenüber der sowjetischen Führung ein wichtiger Grund für seine Entmachtung 1970/71 war.

 

 

 

 

 

Das Ende

 

 

 

Honecker, Ulbrichts Nachfolger, schränkte nach 1971 diese Marktelemente wieder stark ein, die übrigen blieben ein Störfaktor im gesellschaftlichen Plan. Es blieb zwar offiziell bei »Geld«, »Preisen« und »Gewinn«, die Preise wurden aber alle zentral geplant, so dass nun auch der Gewinn eine Größe war, die von der Staatlichen Planungskommission vorgegeben wurde.

 

Diese Plankommission gab eine »Planaufgabe« über die Industrieministerien an die Kombinate. Darin waren Sollgrößen für den jeweiligen Jahres- und Fünfjahrplan aufgeführt. Diese sollten dann in den Kombinaten diskutiert werden. Das Ergebnis wurde an die Ministerien zurückgegeben. Ein wirtschaftliches Wachstum wurde bis auf die Kommastelle genau von der Zentrale vorgegeben. Implizit erwartete man, dass die Kombinate darüber hinaus wenigstens in Teilbereichen eine Übererfüllung der Planaufgabe anboten. Zugleich konnten sich die Kombinate und Betriebe aber auch gegen zu strenge Pläne auf dem Verhandlungswege zur Wehr setzen, was dazu führte., dass die Plankommission vorsorglich die Planaufgabe erhöhte, um an einigen Stellen etwas nachgeben zu können.

 

Die Probleme, die es vorher gab, das Eigeninteresse der Leitungen, die Verschwendung von Produktionsmitteln usw., wurden nicht gelöst. Durch Planaufgaben, die von vornherein höher ausgelegt wurden als nötig und Angebote der Kombinate, die vorsichtshalber niedriger angesetzt waren als möglich, bekam man kein realistischeres Bild der Ökonomie als zuvor. Ein Ausbau des Konsumgütersektors stellte allerdings die Bevölkerung halbwegs zufrieden, ein Ausbau des Westhandels, teils auf Kredit, teils auf Geschäften mit zu Sonderkonditionen bezogenem russischen Erdöl gründend, ermöglichte ein paar Jahre weiteres Durchwurschtelns. Als die Sowjetunion die Preisgestaltung für den Rohstoffhandel mit den »Bruderstaaten« modifizierte und die DDR-Ökonomie immer weniger in der Lage war, Devisen für den Schuldendienst einzunehmen, brach die Ökonomie der DDR zusammen. Das Scheitern in den anderen RGW-Ländern hatte einen ähnlichen Verlauf.

 

 

 

 

 

3. Gründe des Scheiterns

 

 

 

Unabhängig davon, was man vom Realsozialismus sonst hält, vom kulthaften Unterordnen der Einzelnen unter das Kollektiv, von Herrschaft, Militarisierung, Fremdenfeindlichkeit und vielem anderen, ist das stärkste Argument gegen die spezifisch realsozialistische Wirtschaft: Es hat so nicht funktioniert. Und für alle, die nach einer planwirtschaftlichen Alternative zum Kapitalismus suchen, ist die Frage besonders wichtig, warum es nicht funktioniert hat.

 

Die realsozialistischen Länder wurden ja nicht einfach aufgegeben. Die Produktionsanlagen in der DDR z.B. waren z.T. in einem baulich so schlechten Zustand, dass sie gesperrt werden mussten, obwohl die Gesundheit der Arbeiterinnen und Arbeiter normalerweise nicht sonderlich weit oben auf der Prioritätenskala stand. Insofern ist es müßig, sich mit der Frage zu beschäftigen, ob Politbüromitglied Günter Schabowski am 9. November 1989 ein Fehler unterlief, als er auf einer Pressekonferenz die sofortige Öffnung der Grenze zur BRD verkündete – man kann davon ausgehen, dass die Führung, ob sie sich das eingestand oder nicht, über kein tragfähiges Konzept zum Weitermachen verfügte. Und das wird entscheidend dazu beigetragen haben, dass sie die NVA nicht auf die Demonstranten in Leipzig und anderswo haben schießen lassen, denn als besonders moralisch gehemmt in dieser Hinsicht darf man sich die SED-Spitze wohl nicht vorstellen.

 

 

 

Geht man den historischen Weg rückwärts und fängt bei den unmittelbaren Anlässen dieses ökonomischen Zusammenbruches an, ist der dominierende Faktor ein dramatischer Mangel an Devisen. Schon seit Beginn der achtziger Jahre fehlte der DDR international anerkanntes Geld, um Importe zu bezahlen und Schulden zu begleichen.

 

Es ist allerdings offensichtlich, dass der Devisenmangel nur ein Oberflächenphänomen ist, denn natürlich wäre es auch der DDR-Führung lieber gewesen, nichts aus dem kapitalistischen Ausland beziehen zu müssen. Und war es doch notwendig, behauptete die offizielle Doktrin immer, dass die »produktive sozialistische Wirtschaft« keine Schwierigkeiten habe, mit effizient hergestellten, qualitativ hochwertigen Gütern auf dem Weltmarkt erfolgreich zu sein und entsprechend Devisen einnehmen zu können.

 

Das Grundproblem war also erstens ein anscheinend nur durch Importe aus den kapitalistischen Ländern zu dämpfender Mangel an Gütern und zweitens die Unfähigkeit der realsozialistischen Ökonomie, auf dem Weltmarkt dauerhaft erfolgreich mit den entwickelten kapitalistischen Ländern zu konkurrieren. Beides hatte sowohl historische als auch systembedingte Gründe.

 

Die historischen Gründe sind schnell aufgezählt: Sowohl 1917 bis 1920 bezogen auf Russland als auch nach 1945 im gesamten realsozialistischen Raum waren die Zerstörungen durch Bürgerkrieg bzw. Krieg verheerend. Bereits 1921 musste Russland eine große Anzahl von Traktoren aus dem kapitalistischen Ausland importieren, und die Frage, ob man zuerst und vor allem die Landwirtschaft entwickeln solle, um gegebenenfalls Überschüsse zu exportieren, oder die Schwerindustrie, um von Importen schneller unabhängig zu werden (und die Landwirtschaft noch besser entwickeln zu können) war eine der zentralen Fragen in der ökonomischen Debatte der frühen Sowjetunion.[17] Mangel herrschte im Realsozialismus jahrzehntelang. Die Sowjets hatten noch während des Bürgerkrieges mit Hungersnöten zu kämpfen, und in der DDR wurde erst 1958 im Konsum wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Produktionsanlagen und Infrastruktur waren nach 1945 großenteils zerstört, vor allem dort, wo die Deutsche Wehrmacht gewütet hatte. Insofern waren die umfangreichen Demontagen in der DDR (zwischen 1945 und 1948 etwa 46 Prozent des Produktionsapparates) keine grausame Willkür, sondern durch die Umstände nahegelegt. Sie schwächten die sowjetisch besetzte Zone im Vergleich mit den Westzonen allerdings entscheidend. Auch war die Industrie der SBZ traditionell auf einen Austausch mit dem restlichen Gebiet des ehemaligen Deutschen Reiches ausgerichtet. Alternative Bezugswege z.B. für Kohle mussten erst gefunden werden. Ein völliger Verzicht auf Austausch mit dem kapitalistischen Ausland hätte in beiden Fällen zu einer dramatischen Verschärfung der ohnehin schon schlechten Versorgungslage geführt. Von Anfang an ging es im Realsozialismus also darum, Mangel zu verwalten und einem überlegenen Gegner hinterherzulaufen.

 

Und ein weiterer historischer Umstand, der sowohl den Import aus dem Kapitalismus nahelegte als auch die Entwicklung der Produktivkraft hemmte, war, dass die Realsozialisten, wollten sie an ihrem Programm festhalten, mit einer Bevölkerung zurechtkommen mussten, die diesem Programm zu großen wenn nicht überwiegenden Teilen neutral bis feindlich gegenüberstand. Das galt für die russischen Bauern nach 1917, das galt für den Großteil der Bevölkerung in den osteuropäischen Ländern, und das galt insbesondere natürlich für die Leute in Deutschland und den mit ihm im Zweiten Weltkrieg verbündeten Ländern, die doch eben noch versucht hatten, den russischen Untermenschen den Garaus zu machen. Natürlich schreckten die jeweiligen Führungen nicht vor Gewaltanwendung zurück, um zumindest ein Erdulden ihrer Herrschaft zu erzwingen. Allein darauf ist aber kein Staat zu gründen. Besonders galt das in Bezug auf Mitglieder der alten Führungsschichten, die als Unternehmer während der Neuen Ökonomischen Politik, aber auch nach dem Zweiten Weltkrieg als Techniker, Verwaltungsfachleute usw. gebraucht wurden. Man konnte Belobigungen aussprechen, Orden verteilen, aber irgendwann musste für die Bevölkerung auch »etwas rumkommen«.[18] Unter diesen Voraussetzungen war jeder Einschränkung des Konsums mit dem Ziel wirtschaftlicher Autarkie enge Grenzen gesetzt.

 

Ließ man sich aber auf den Weltmarkt ein, bedeutete das, dass tendenziell die ganze Produktion auf den Maßstab der Kostenersparnis ausgerichtet werden muss, nicht nur bei den eigentlichen Exportgütern, sondern bei allen Produkten, die in ihre Herstellung eingehen, bis hin zu Verkehrswegen und Verpackung. Will man gegenüber kapitalistisch produzierten Waren konkurrenzfähig sein, die ja unter dem Interesse an Gewinn und Zwang zur Kostenersparnis produziert werden, legt das auch im Sozialismus Verlängerung und Intensivierung der Arbeit, Rücksichtslosigkeit gegenüber der Gesundheit der Arbeitenden und Umweltverschmutzung nahe, zumindest, wenn man der eigenen Einschätzung nach mit dem Rücken zur Wand steht und »Opfer« für das Überleben des Sozialismus zumindest »vorübergehend« unausweichlich zu sein scheinen.[19]

 

Die Produktivkraft, also das Verhältnis von Arbeitsertrag und Arbeitsaufwand, war im Realsozialismus dauerhaft geringer als in den kapitalistischen Ländern, und zumindest in den letzten Jahrzehnten vergrößerte sich der Abstand noch. Ulbricht schätzte auf dem VI. Parteitag der SED den Rückstand im Vergleich zum Westen auf 25 Prozent; der Chef der Plankommission, Schürer, gab ihn im Oktober 1989 mit etwa 40 Prozent an.

 

Ignorieren konnten die realsozialistischen Führungen den Produktivkraftrückstand nicht. Erstens wegen ihrer Weltmarktorientierung: Ein Produkt kann für sich genommen gut sein (und das wäre in einer reinen Planwirtschaft der wichtigste Maßstab), wird es unter so viel schlechteren Bedingungen produziert, als das der Konkurrenz, ist es nicht geeignet, auf dem Weltmarkt Einkünfte zu beschaffen, um neue Produktionsmittel zu importieren.[20] Zweitens konnten sie den Rückstand nicht ignorieren, weil es die Legitimation der leninistischen Parteien im Innern beschädigt hätte, nicht in allen zentralen Ökonomiebereichen von Weltraumtechnik bis zum Kleinwagen etwa auf dem Niveau zu produzieren wie der entwickelte Kapitalismus. Und drittens, weil auch die militärische Pattsituation mit der NATO nur auf Grundlage einer nahezu gleichen Produktivkraft dauerhaft aufrechtzuerhalten war.

 

 

 

Damit kommt man aber schon an die Entwicklungsbedingungen, die die Realsozialisten nicht einfach vorgefunden haben, sondern die sie, zumindest auch, selbst herstellten. Das Kernproblem in der Planerfüllung war immer, dass die Betriebsleitungen vor Ort nicht das taten, was die Zentrale für notwendig hielt, und oft wohl auch nicht das, was zur sinnvollen Entwicklung der Produktion tatsächlich notwendig gewesen wäre. Dabei handelt es sich nicht grundlegend um ein technisches Problem oder um ein Problem des Informationsflusses. Zwar fehlten der Zentrale Informationen aus den Betrieben (und hätte es sie interessiert, auch aus den Haushalten). Die Grundlage dafür war aber ein Interessengegensatz. Dass die Betriebsleitungen Reserven verheimlichten, mehr Material und Arbeitskraft einforderten als sie brauchten und Umwelt und Bausubstanz strapazierten, um ihr Plansoll zu erfüllen, war unter den Bedingungen des Mangels rational. Und zwar unabhängig davon, ob man die Leitungen wie unter Stalin mit dem Tode bedrohte oder ob man ihnen für den Erfolgsfall Prämien und Privilegien versprach, wie es später üblich war.

 

Insofern war das Misstrauen der realsozialistischen Führungen gegenüber den Werktätigen bzw. ihren Vorarbeitern zumindest tendenziell immer gerechtfertigt. Die Gegenmaßnahmen, ob sie nun in Überwachung und Strafe bestanden oder in marktsozialistischen Versuchen, verschärften und zementierten den Gegensatz zwischen der Leitungsebene und den Einheiten vor Ort noch.

 

 

 

Eine weitere Bedingung für die jeweilige Einschätzung der gesellschaftlichen Lage und der sich ihnen bietenden Handlungsmöglichkeiten durch die realsozialistischen Führungen war die eigene theoretische Tradition. Die Grundlage der marxistisch-leninistischen Kapitalismuskritik war vor allem die Krisenhaftigkeit des Kapitalismus, interpretiert als ein »Versagen« dieser Wirtschaftsweise. Umgekehrt behauptete der Marxismus-Leninismus die ökonomische Überlegenheit der Planwirtschaft.[21] Effizienz wurde als ein neutraler, technischer Begriff angesehen, und die Planwirtschaft letztlich bloß als ein besseres Mittel, um das Ziel einer ökonomisch erfolgreichen Gesellschaft zu erreichen.

 

Es passt dazu, dass die Realsozialisten versuchten, kapitalistisches Geld zu simulieren und das »Wertgesetz« anzuwenden, was zwar recht marxistisch klingt, mit der marxschen Kapitalkritik allerdings wenig zu tun hat. Die Realsozialisten unterschätzten die Eigengesetzlichkeiten kapitalistischen Wirtschaftens, das »Automatische-Subjekt-Sein« des Kapitals in doppeltem Sinne: Sie unterschätzten die Schwierigkeiten, in einer Planwirtschaft »ökonomische Hebel« wie Geld, Markt und Preis wirken zu lassen, und sie unterschätzen dort, wo es einmal funktionierte, die zerstörerische Wirkung ihres Erfolges.

 

Es ist aus heutiger Perspektive, die ja die Erfahrung des realsozialistischen Zusammenbruchs beinhaltet, schwer sich vorzustellen, dass der Realsozialismus überhaupt einmal Legitimität produziert hat. Aber in den sechziger und siebziger Jahren und vielleicht auch in den Dreißigern unter Stalin (jedenfalls wenn man nicht zu den Bevölkerungsteilen gehörte, die zu Gegnern erklärt und ermordet wurden) scheint das zum Teil funktioniert zu haben. Und zwar nicht indem den Einzelnen ermöglicht worden wäre, sich jenseits ihrer kapitalistischen Vorverkrustungen frei entwickeln zu können, sondern mit der Ankündigung, auf einem quasi naturgesetzlich bestimmten Siegespfad der Geschichte unterwegs zu sein zu immer mehr Wohlstand, Sicherheit und proletarischer Moral.

 

Die »Freie Assoziation« in allen ihren Facetten, das marxsche »Reich der Freiheit«[22] wurde explizit nicht genutzt, um in der verdächtigen Bevölkerung für das eigene Programm zu werben. Wenn Denken von Stalin als ein »Produkt der Materie« bezeichnet wurde, dann behauptet er damit, dass Interessen aus objektiven Bedingungen ableitbar seien. Das ist kein zufälliger Fehler, sondern rechtfertigt und beschreibt eine politische Praxis, in der die Bildung, Artikulation und Vertretung realer Interessen immer zumindest als Sand im Getriebe (wenn nicht als Sabotage) wahrgenommen wurden und deshalb als objektiv dem Klassenfeind in die Hände spielend eingeschätzt. Der »Grad der Demokratie« so ein Lehrbuch aus der DDR, sei bestimmt dadurch, »wer an der Macht ist, welche Politik die jeweilige Staatsmacht durchführt«[23]. Für eine Staatsmacht, die ihrer eigenen Bevölkerung begründet misstraut und die eine Infragestellung und Diskussion der von ihr vorgegebenen Ziele als Schwächung im Kampf gegen einen überlegenen äußeren Gegner auffasste, eine naheliegende Position. Damit verbaute sie sich aber jeden Weg zu einer Rechtfertigung des Realsozialismus jenseits der ökonomischen Konkurrenz mit dem Kapitalismus, obwohl eine solche nicht nur ökonomische Legitimation wahrscheinlich die einzig mögliche gewesen wäre. Es gab klügere Positionen bei den Bolschewiki und in weit geringerem Maße auch noch nach 1945. Doch gerade die falschen Elemente der marxistisch-leninistischen Tradition, seien es eine mangelhafte Kapitalismuskritik, das Vertrauen auf die Planbarkeit des ökonomischen Markterfolgs und der dialektische Materialismus, entsprachen am besten einer unmittelbar auf den Machterhalt ausgerichteten und deshalb nach Auffassung der realsozialistischen Doktrin objektiv im Interesse der Arbeiterklasse gebotenen Politik.

 

 

 

 

 

4. Konsequenzen

 

 

 

Eine ganze Reihe von schwierigen Bedingungen haben den Realsozialismus erst zu dem gemacht, was er war und bald auch dazu geführt, ihn aus der Welt zu schaffen: eine Minderheitenrevolution in unterentwickelten und vom Krieg oder Bürgerkrieg zerstörten Ländern, durchgeführt von Revolutionären, die zumindest zum Teil den Kapitalismus nicht so ganz verstanden und vom Kommunismus ein ökonomistisch verengtes Zerrbild im Kopf hatten. Die dann eine Ökonomie in die Welt setzten, die versuchte, einige Unsinnigkeiten des Kapitalismus zu kopieren, um ökonomisch zu überleben – und die damit letztlich scheiterte.

 

Doch was bedeutet diese Erfahrung für die nächste Revolution? Man könnte ja einfach sagen: keine Minderheitenrevolution, schon gar nicht in einem unterentwickelten Land, sondern in allen kapitalistischen Zentren. Auf Krieg und Bürgerkrieg möchte ohnehin jeder vernünftige Mensch verzichten: Und man könnte darauf hoffen, dass eine vernünftige revolutionäre Bewegung, ausgestattet mit einer profunden Kenntnis der marxschen Kapitalanalyse und der Geschichte der Arbeiterbewegung, gar keinen Mangel verwalten müsste, sondern unter freiwilliger Beteiligung aller Überfluss verteilen könnte, natürlich ohne Geld und Gewinn.

 

Man muss sich jedoch darüber klar sein, dass auf absehbare Zeit die Diskussion dieser Fragen sich nicht auf kommunistische Zielvorstellungen beziehen kann, sondern immer auf etwas viel »unreineres«: die Übergangsgesellschaft, die Gesellschaft, ab dem »Tag X + 1«. Hier würde sich entscheiden, ob es überhaupt ein »Weiter« gibt, hier lauern die größten Probleme, hier müssten aber auch die Versprechen angesiedelt sein, die die Leute dazu bewegen, Revolution zu machen bzw. Argumenten für Kommunismus wenigstens schon einmal zuzuhören. Denn ob sie das »Danach« überhaupt erleben, den Kommunismus aus dem Modellbauladen, stünde selbst bei einer ganz friedlichen Revolution aus schlicht biologischen Gründen in den Sternen.

 

Wie sähe es aber aus in dieser »Übergangsgesellschaft«? Es sind natürlich besonders schlechte Bedingungen für den Aufbau des Sozialismus, wenn ein großer Teil der Bevölkerung fast noch auf Subsistenzniveau wirtschaftet wie in Russland 1917 oder das kontrollierte Gebiet den schlimmsten Krieg in der Geschichte der Menschheit hinter sich hat und an allen Ecken und Enden selbst elementare Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Oder wenn ein Großteil der zu organisierenden Bevölkerung aus ehemaligen zaristischen Bauern und Bäuerinnen oder ehemals begeisterten Anhängern des Führers besteht. Aber eine revolutionäre Linke sollte sich nicht zu sicher sein, solche Probleme im entwickelten Kapitalismus längst hinter sich gelassen zu haben und sich nicht mehr darum kümmern zu müssen.

 

Es ist eine armselige Position, wenn, angesichts des realsozialistischen Desasters, von Kommunisten vertreten wird, Kommunismus sei eben nur möglich, wenn weltweit der Mangel bereits überwunden ist. Denn es ist doch gerade die kapitalistische Produktionsweise, die dafür sorgt (und von vernünftigen Leuten dafür kritisiert wird), dass die Konsummöglichkeiten der Mehrheit krass hinter der Reichtumsproduktion zurückbleiben und dass dieser Reichtum erstens extrem ungleich verteilt ist und zweitens großenteils in einer materiellen Form vorliegt, die unmittelbar gar nicht geeignet ist, der individuellen Beglückung zu dienen.

 

Aber wäre das nicht nur ein kurzes Übergangsproblem? Selbstverständlich gäbe es in einer kommunistischen Planwirtschaft Faktoren, die die Produktivität steigern und den Mangel tendenziell abschaffen würden. Ihnen stehen jedoch in einer längeren Übergangszeit andere Faktoren gegenüber wie die Schwierigkeiten einer völlig neu zu organisierenden Produktion, eine abnehmende Intensität der Arbeit, die nun von Leuten getan wird, denen nicht mehr die Angst vor Kündigung und nachfolgendem Elend im Nacken sitzt, der Entschluss, vor ökonomischen Entscheidungen all die zu Wort kommen zu lassen, die von ihnen betroffen sind. Dass die Produktivität sich im Kommunismus rasch besser entwickeln wird als im Kapitalismus ist auf dieser Grundlage unwahrscheinlich. Das ist zum einen – das hat man im Realsozialismus gesehen keine gute Voraussetzung zur Konkurrenz mit dem Kapitalismus und für Versuche, in enger begrenzten Teilen der Welt schon mal anzufangen mit der Befreiung. Das deutet zweitens aber auch darauf hin, dass man sich nach der Revolution doch noch eine Weile damit wird herumschlagen muss, dass nicht alle alles haben, was sie haben wollen und sollen, mit irgendeiner Form des Mangels und mit seinen politischen Folgen.

 

Der Realsozialismus hat gezeigt, welche Auswirkungen es hat, wenn Kommunisten, die doch eigentlich an das von Lenin prognostizierte Absterben des Staates glaubten, als Partei- und Staatslenker dauerhaft mit äußeren Feinden zu tun haben und im Inneren mit einer Bevölkerung, der sie nicht vertrauen. Diese Frontstellung brachte alles das in den Vordergrund, was an theoretischen Fehlern und autoritärem Bewusstsein mitgeschleppt worden war. Doch als Konsequenz daraus zu behaupten, nur eine Gemeinschaft vollständig aufgeklärter Edelkommunisten sei in der Lage, Kommunismus zu verwirklichen, drückt sich um das Problem herum. Die bestehende Gesellschaft tut einiges dafür, dass Menschen auch linksradikale autoritätsgläubig, sexistisch, profilneurotisch und sonst was werden. Der Aufklärung über sich und die Welt steht im herrschenden Kapitalismus mehr im Weg als ein bisschen Denkfaulheit und die fehlende Berührung mit dem letzten, restlos aufklärenden Flugblatt.[24]

 

 Sicher, was kann man schon dagegen einwenden, auf die Kraft des Arguments zu vertrauen. Es bleibt uns ja auch gar nichts anderes übrig. Doch ein vernünftiges Konzept von Übergangsgesellschaft muss zugleich davon ausgehen, dass auch nach einer besseren Revolution als den bisherigen, Leute in die Gesellschaft zu integrieren sind, die erst noch (und immer wieder) überzeugt werden müssen.

 

Das werden zum einen diejenigen sein, die man vor der Revolution nicht mehr rechtzeitig überzeugen konnte, die aber nun einmal zur Gesellschaft gehören und auf deren Mitarbeit man vielleicht sogar angewiesen ist.

 

Zudem wird der gesellschaftliche Prozess im Kommunismus selbst Interessengegensätze hervorbringen, die es nicht wahrscheinlich machen, dass einfach alle »aus Gewohnheit«, wie Lenin in Staat und Revolution 1917 schrieb, das Notwendige tun. Einen wissenschaftlichen Kommunismus in dem Sinne, dass in jedem Fall von »Experten« entschieden werden könnte, wo welche Produktionsanlage stehen soll, allein nach Kriterien der Bodenbeschaffenheit und Transportweglänge, gibt es nicht. Denn ein solcher Standort hat auch damit zu tun, ob Leute die Anlage in ihrer Nachbarschaft haben wollen oder wie weit sie fahren möchten, um da zu arbeiten. Auch Entscheidungen, ob weniger gearbeitet oder mehr produziert werden soll, sind nicht objektiv. Das alles sind Fragen, die mit Interessen, manchmal auch bloß mit persönlichen Vorlieben zu tun haben. Sie haben für die Einzelnen spürbare Konsequenzen und können doch nicht einfach individuell entschieden werden. Eine Technikerin, die weniger arbeiten möchte, kann sich, wenn die Mehrheit ihrer Fabrikgenossen das anders sieht, entweder dieser Mehrheit beugen (wenigstens so lange, bis eine Ersatzkraft vorhanden ist), oder sie kann einfach nach Hause gehen und so stundenweise die Produktion lahmlegen. Wie sie sich auch entscheidet, ein Moment von Gewalt, sich selbst oder anderen gegenüber, ist nicht zu vermeiden. Das heißt, es wird auch im Kommunismus, verstanden als Übergangsgesellschaft mittlerer Reichweite, Konflikte und Interessengegensätze geben.

 

Ob man diese anerkennt oder nicht, ist eine für die Zukunft kommunistischer Gesellschaftsentwürfe entscheidende Frage. Im Realsozialismus beanspruchten die herrschenden Parteiführungen, das Interesse der Arbeiterklasse objektiv zu formulieren, was einen politischen Prozess letztlich überflüssig machte. Die realen und durch die realsozialistische Politik noch verschärften Interessengegensätze tauchten als Störgrößen, z.B. im Planungsprozess, immer wieder auf und führten endlich zur Auflösung der realsozialistischen Herrschaft.

 

 Gibt es Interessengegensätze, ist die Frage, ob man sie bewusst gestaltet, oder ob man das Ergebnis dem Zufall, oder besser, den Machtmitteln (Fähigkeiten, Verhandlungsgeschick, Ressourcen, Körperkraft) der Einzelnen überlässt. Bewusste Gestaltung bedeutet demgegenüber, Institutionen zu schaffen, in denen Interessen artikuliert und ausgeglichen werden können, eben demokratische Institutionen zu schaffen.

 

Wer nun sagt, dass das doch Unsinn sei, weil Demokratie nichts anderes heiße als abstrakt die Identität von Volkswillen und Staatsgewalt zu verwirklichen, kann es ja anders nennen. Aber eine Gesellschaft, in der auch Stotterer, Schüchterne und Leute, die wegen ihrer Gebrechlichkeit zuhause bleiben müssen, tatsächlich mitbestimmen dürfen, stellt sich nicht naturwüchsig mit dem Wegfall des Klassenantagonismus her. Mehr noch: Die Interessen aller einfließen zu lassen ist nicht identisch mit dem Ziel der Produktivkraftsteigerung zwecks Versorgung oder Arbeitszeitverkürzung. Die Realsozialisten hatten auf eine verdrehte Art sogar recht, in Befehl und Gehorsam ein Moment von Effektivität zu sehen, und das hat zumindest dazu beigetragen, die emanzipativen Elemente, die sogar im Demokratischen Zentralismus zu erahnen sind, im Kampf gegen innere und äußere Feinde bald fallen zu lassen. Das bedeutet aber, dass die Gefahr des autoritären Rollbacks als permanent angenommen werden kann.

 

 

 

Konsequenzen aus all dem ergeben sich nicht erst für eine imaginäre »revolutionäre Situation«. Gängige Praxis in der radikalen Linken ist es ja, die Arbeit an der Revolution sauber in Phasen aufzuteilen, jetzt klandestine Kleingruppen zu betreiben, in denen derjenige das Flugblatt schreibt, der auf dem Plenum die größte Ausdauer bewiesen hat und als letzter nach Hause gegangen ist, und dann, wenn die Organisation irgendwann »viel größer« geworden ist, nachvollziehbare Entscheidungen und Verantwortlichkeiten zu garantieren. Oder heute kulturell oder intellektuell einen exklusiven Avantgardestil zu pflegen, für später jedoch ein politisches Ziel zu verfolgen, bei dem irgendwann in jeder Fabrik aufgeklärte Genossen, als Rat organisiert, die politischen und ökonomischen Entscheidungen treffen. Diese Phasen gibt es so nicht, und um die Revolution müssen sich nur die heute keine Gedanken machen, die mit ihrem linksradikalen Biotop, verbunden mit den partiellen Annehmlichkeiten einer entwickelten kapitalistischen Gesellschaft, eigentlich ganz zufrieden sind. Eine kommunistische gesellschaftliche Organisation ohne zentrale Institutionen wird es nicht geben. Das bedeutet Delegation, Mehrheitsentscheidungen, wenn nötig, und Unterordnung der Minderheit unter die Mehrheit in den (hoffentlich wenigen) Fällen, wo ein »sowohl als auch« unterschiedlicher Konzepte nicht geht. Gleichzeitig wäre es fatal, diese Institutionen ganz leninistisch nur in Hinblick auf ihre Effizienz in der politischen Arbeit hin zu entwickeln, obwohl das immer das Naheliegende ist.

 

Revolutionen passieren, aber Kommunismus muss gemacht werden. Und das wird nur dann auf vernünftige Weise klappen, wenn die Leute, die es angeht, sich sehr lange darauf vorbereitet haben. Neben alten (und richtigen) Forderungen wie der nach Transparenz von Entscheidungen und Modellen von Ämterrotation sind gerade wegen der Komplexität der Prozesse auch so »weiche« Faktoren wie Vertrauen im Entscheidungsprozess von Bedeutung Faktoren, die es ermöglichen, Entscheidungen mitzutragen, auch wenn man entweder nicht mitentschieden hat oder zu einer Minderheit gehört. Institutionen, die das leisten, sind nicht am Reißbrett zu entwickeln, sondern müssten ausprobiert werden, eingeübt, vor der Revolution. Und zwar nicht erst, wenn die radikale Linke die ersten hunderttausend Genossen überzeugt hat, denn spätestens dann wird der Wind uns ziemlich steif ins Gesicht wehen. Wer heute meint, eine kluge Organisierung der radikalen Linken wäre nicht nötig, bereitet den Leuten unter uns den Weg, die ganz im Sinne Lenins undurchsichtige Hierarchien im Untergrund für das Mittel der Wahl halten werden, wenn es ernst wird.

 

 

 

Rüdiger Mats

 

Der Autor lebt in Leipzig.

 



[1]     Stefan Wolle, Aufbruch in die Stagnation. Die DDR in den Sechzigerjahren, Bonn 2005, 52; auch Linke wie Joachim Hirsch können in dieses Spektrum eingeordnet werden. Dass »eine technisch hochentwickelte Ökonomie nach dem derzeitigen Stand der Erkenntnisse und Erfahrungen ohne eine funktionierende Marktregulierung nicht auskommt« (Joachim Hirsch, Kapitalismus ohne Alternative? Hamburg 1990, 178f.), ist jedoch nur dann eine unhinterfragbare Voraussetzung, wenn man zentrale problematische Grundannahmen der bürgerlichen Volkswirtschaftslehre als Argument hinnimmt: »Knappheit« als vorgeblich nicht gesellschaftlich bestimmte ökonomische Grundkategorie; die Vorstellung, der Markt tendiere zu einer vernünftigen Allokation von Gütern; die Faktorpreistheorie, nachdem auch die Produktionsfaktoren »Kapital« und »Boden« Wert schaffen.

[2]     Vgl. z.B. die folgenden Modelle: Takis Fotopoulos, Towards an Inclusive Democracy. The Crisis of the Growth Economy and the Need for a New Liberatory Project, London–New York 1997; Christian Siefkes, Ist Commonismus Kommunismus? Commonsbasierte Peer-Produktion und der kommunistische Anspruch, in: PROKLA 155, Juni 2009; Michael Albert, Parecon. Life after Capitalism, London–New York 2004.

[3]     Zur Kritik daran vgl. z.B. Annika Beckmann und Daniel Fastner, Ernsthafte Gedankenspiele (dezentrale) ökonomische Modelle reflektieren, in: Das Argument, Heft 286, 205–212, Rüdiger Mats, Ich bring’ schon mal den Müll runter. Probleme gesellschaftlicher Integration im Übergang. in: Phase 2, Heft 36.

[4]     Vgl. z.B. Mathias Wiards, Krise im Realsozialismus. Hamburg 2001, 189–246.

[5]     Wladimir Iljitsch Lenin, Staat und Revolution, V. Kapitel, Die ökonomischen Grundlagen für das Absterben des Staates.

[6]     Nikolaj Bucharin/Jewgenij Preobraschenskij, ABC des Kommunismus, dt., Wien 1920, §20.

[7]     Beide wurden später auf Befehl Stalins umgebracht, der eine wegen »Rechts-«, der andere wegen »Linksabweichung«.

[8]     Bucharin/Preobraschenskij, ABC, §93.

[9]     Vgl. eine gute Übersicht unter: http://eeo.uni-klu.ac.at/index.php/Kriegskommunismus.

[10]    Wladimir Iljitsch Lenin, Die Neue Ökonomische Politik und die Aufgaben der Ausschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung. Referat auf dem II. Gesamtrussischen Kongress der Auschüsse für politisch-kulturelle Aufklärung (Dez. 1921)

[11]    Wladimir Iljitsch Lenin, Über die Naturalsteuer (Die Bedeutung der neuen Politik und ihre Bedingungen). In: Lenin-Werke, Bd. 32, Berlin 1982, 341–380, hier 364.

 

[12]    Donald Bloxham/A. Dirk Moses (Hrsg.), The Oxford Handbook of Genocide Studies. Oxford University Press, Oxford 2010, 396.

[13]    Bei Marx ist der gesellschaftlich notwendige Charakter aufgewendeter Arbeit demgegenüber gar nicht im Vorhinein feststellbar, sondern erweist sich erst mit der Realisierung der Warenwerte auf dem Markt. Es ist daher zu bezweifeln, dass dieser Begriff (und damit auch der Wertbegriff) sinnvoll auf nichtkapitalistische Ökonomien anwendbar ist. Nur der Export realsozialistischer Güter über den kapitalistischen Markt gab eine Art Realisierungsinstanz ab. Allerdings blieb für die realsozialistischen Planer das Problem, dass sie aufgrund halbwegs willkürlich festgelegter Preise im Inneren den Aufwand, den die Exportgüter in der Herstellung gekostet hatten, nicht genauso »objektiv« berechnen konnten wie den auf dem Weltmarkt erzielten Erlös. Und auch Arbeitszeit zu messen wäre keine Alternative gewesen – denn ob die Arbeitsmenge »gesellschaftlich notwendig« war, hätte ja wieder nur der Markt erweisen können.

[14]    Josef W. Stalin, Ökonomische Probleme des Sozialismus in der UdSSR, Berlin 1952, 20f.

[15]    Vgl. Isaak Deutscher, Chruschtschows Wirtschaftsreform. In: Ders., Zwischen den Blöcken, Hamburg 1982, 126ff.

[16]      Jewsey Liberman, Plan, Gewinn, Prämie, Prawda vom 9. September 1962, Dt. in Die Wirtschaft, 26. September 1962.

[17]    Immer noch lesenswert dazu: Friedrich Pollock, Die planwirtschaftlichen Versuche in der Sowjetunion 1917–1927. Leipzig 1929, Neuausg. 1971. Und: Alexander Erlich, Die Industrialisierungsdebatte in der Sowjetunion 1924–1928. Frankfurt/Main 1971. Sehr umfangreich ist die Sammlung von Originaltexten und Protokollen: Die Linke Opposition in der Sowjetunion 1923–1928. Fünf Bände, Berlin 1976.

[18]    Und, das soll nochmal betont werden, gerade in der Anfangsphase des Realsozialismus wollten sie die Lage der Leute im Land ja tatsächlich verbessern. Und selbst Erich Honecker noch war es vermutlich wirklich ein Anliegen, das bessere Deutschland zu bauen und im Zuge dessen seine Landeskinder mit schmucken neuen Wohnungen auszustatten.

[19]    Dabei war nicht die Ausrichtung an Effizienz das Problem, letztere gibt es in einer Planwirtschaft auch. Überall da, wo, wie Marx schrieb, die »Arbeit kein Spiel« ist (Karl Marx, Grundrisse der Kritik der Politischen Ökonomie, 599), gibt es das Interesse, Arbeitsaufwand zu minimieren. Marx wies jedoch schon darauf hin, dass im Kapitalismus der Maßstab ein anderer ist, weil die »unbezahlte Arbeit«, die mehrwertproduzierende Arbeit, gar keinen Aufwand für das Kapital darstellt. Dem geht es nur darum, durch Kostenersparnis die Profitrate zu erhöhen, und wenn bei sinkenden Kosten noch mehr gearbeitet wird, umso besser. Von der Frage, wie angenehmer gearbeitet werden kann, die in einer Planwirtschaft vernünftigerweise von Bedeutung wäre, mal ganz abgesehen. Ausrichtung an der Kosteneffizienz des Weltmarktes bedeutete, dass sich der Realsozialismus praktisch dem menschenfeindlichen Kriterium kapitalistischer Effizienz annäherte, obwohl die damit verbundenen Auswirkungen durch den Sozialismus doch gerade überwunden werden sollten.

[20]    Deshalb ist gar nicht auszuschließen, dass der Realsozialismus produktiv gewirtschaftet hätte, wenn er sich nicht in vielerlei Hinsicht auf den Kapitalismus hätte ausrichten müssen und z.B. Investitionen vor allem dort tätigen, wo ein Exporterlös zu erwarten war.

[21]    Friedrich Engels, Antidühring, MEW 20, 263.

[22]    Karl Marx, Das Kapital Bd. 3, MEW 25, 828.

[23]    Autorenkollektiv, Marxistische Philosophie, Berlin 1964, 570.

[24]    »Was einer für eine Meinung hat, wird als sein Besitz zu einem Bestandstück seiner Person, und was die Meinung entkräftet, wird vom Unbewussten und Vorbewussten registriert, als werde ihm selber geschadet.« Theodor W. Adorno, Meinung Wahn Gesellschaft. In: Ders., Eingriffe. Neun kritische Modelle, Frankfurt/Main 1963, 148. Die Verfestigung falscher Ansichten gründet tief in den bürgerlichen Subjekten, so dass weder wahrscheinlich ist, die allgemeine Aufklärung schon unter kapitalistischen Bedingungen zu erreichen, noch anzunehmen, dass dieses Problem mit einer Abschaffung kapitalistischer Verhältnisse schon gelöst wäre.