Tschüss, Commune?

Hannes Giessler Furlan hat ein kritisches Buch über den Kommunismus geschrieben. Eine Diskussion in Leipzig zeigt, warum das nötig war.
jungle world 21. 2. 2019

Donald Trump und Wladimir Putin beginnen ein atomares Wettrüsten, auf den Straßen macht sich der braune Mob breit, das Klima ist bald im Eimer – und im Leipziger »Conne Island« findet in diesem Januar vor 100 Leuten eine Podiumsdiskussion zu der Frage statt, wie in ferner Zukunft eine kommunistische Alternative zum Kapitalismus aussehen könnte. Ist das absurd? Nicht so sehr. Dass die radikale Linke aus politischer Feigheit und intellektueller Bequemlichkeit ihr politisches Ziel seit Jahrzehnten in Unschärfe belassen hat, hat ihr nur geschadet und niemandem genützt.

Die »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« aus Berlin haben im vorigen Jahr einen kurzen Text zur »Weltcommune« veröffentlicht. Man kann annehmen, dass sie mit ihm zeigen wollen, dass und – in Ansätzen – wie Kommunismus möglich wäre. Hannes Giessler Furlan, der ein umfassendes Buch über kommunistische Konzepte und Realisierungsversuche veröffentlicht hat, hält das hingegen eher für einen Fehler.

 

Pleiten, Pech und Pannen
Seit es den Kapitalismus gibt, hat er radikale Opposition hervorgerufen und Menschen dazu veranlasst, angesichts materieller und psychischer Verelendung die Wirtschaftsweise und das politische System umwälzen zu wollen. Die Gründe dafür sind mit der Zeit nicht weniger geworden. Der Widerspruch zwischen der Fähigkeit des Kapitalismus, die Produktivkräfte zu entwickeln, und seiner realen Produktion von Elend ist eher noch größer geworden. Wieso haben dann Vorstellungen einer linksradikalen Alternative nicht überzeugt? Wieso ist man, wie Giessler in der Diskussion feststellt, heutzutage vom Kommunismus weiter entfernt als vor 100 Jahren?

In der radikalen Linken ist es üblich, diese Tatsache mit ungünstigen gesellschaftlichen Bedingungen und Fehlern der Revolutionäre und Revolutionärinnen zu erklären: Mal hätten die sich für die Revolution das falsche Land ausgesucht, mal nach der Revolution das Geld zu spät abgeschafft, und immer herrschte vor der Revolution ein Zustand, der »zufällig« Armut und Unbildung mit sich brachte, so dass die revolutionären »Massen« psychisch und materiell leider nicht so ausgestattet waren, wie es die Revolution erfordert hätte. Alles Quatsch, sagt Giessler in seinem Buch: Der Hauptgrund für die Erfolglosigkeit kommunistischer Konzepte liege in diesen Konzepten selbst. Das ist von einem (ehemals?) Linksradikalen interessant zu lesen.

Marx hat kein Kommunismuskonzept erarbeitet, aber doch Grundzüge der von ihm angestrebten Gesellschaft umrissen: Ein »Verein freier Menschen« soll es sein, an dem die »Individuen als Individuen« Anteil nehmen. Um eine Gesellschaft geht es Marx, in der die Menschen nicht mehr von ­ihren ökonomischen Beziehungen beherrscht werden, sondern »Herren ihrer eigenen Vergesellschaftung« sind. Die Arbeitsteilung soll so weiterentwickelt werden, dass sie Menschen nicht mehr ein Leben lang auf öde Spezialtätigkeiten festlegt. Der Austausch von Produkten und Arbeitsleistungen soll nach dem Grundsatz erfolgen: »Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seinen Bedürfnissen.« Das alles wird von Marx nur angedeutet, verstreut in Veröffentlichungen aus mehreren Jahrzehnten, aber es ist mit so viel utopischer Kraft ausgestattet, dass es noch immer die linksradikalen Zielvorstellungen prägt.

Nun ist aber Marx zufolge der Weg in diese Zielgesellschaft durch die Erbschaften des Kapitalismus verstellt. Die erste nachrevolutionäre Gesellschaft, schreibt Marx in der »Kritik des Gothaer Programms«, »ist eine kommunistische Gesellschaft, nicht wie sie sich auf ihrer eignen Grundlage entwickelt hat, sondern umgekehrt, wie sie eben aus der kapitalistischen Gesellschaft hervorgeht«. Dementsprechend müsse zum Beispiel der Konsum anfänglich an der Arbeitsleistung ausgerichtet werden. Der Arbeiter »erhält von der Gesellschaft einen Schein, dass er soundso viel Arbeit geliefert (nach Abzug seiner Arbeit für die gemeinschaftlichen Fonds), und zieht mit diesem Schein aus dem gesellschaftlichen Vorrat von Konsumtionsmitteln so viel heraus, als gleich viel Arbeit kostet«. Dass das nicht gerecht ist, gesteht Marx zu. »Aber diese Missstände sind unvermeidbar in der ersten Phase der kommunistischen Gesellschaft (…). Das Recht kann nie höher sein als die ökonomische Gestaltung und dadurch bedingte Kulturentwicklung der Gesellschaft.«

Was ist von einer solchen »ersten Phase«, wie Marx sie umreißt, zu halten? Giessler ist in seinem Buch eindeutig: wenig. Denn dieser Vorkommunismus könne nicht anders sein als erstens ökonomisch inkonsistent und zweitens politisch ein Schrecken. Ökonomisch inkonsistent sei er, weil die Menge der produktiven Arbeit, die in ein Produkt eingeht, gar nicht exakt zu messen sei. Welche Arbeit produktiv ist, stellt sich auch in einer sozialistischen Ökonomie erst im Nachhinein heraus (wenn die hergestellten Sachen wirklich gebraucht wurden). Vor allem aber verunmöglichen unterschiedliche Intensitätsgrade der Arbeit, Ausbildungszeiten und anderer Faktoren die genaue Messung der Arbeitsquanta. Das stimmt zwar, aber Giessler interpretiert Marx hier wie ein Kassenwart aus Schwaben. Dass die Arbeitszeitberechnung in einer nachrevolutionären Gesellschaft wirklich so exakt sein müsste, kann man mit Recht bezweifeln.

Giesslers zweiter Punkt – der politische Schrecken – ist denn auch der wichtigere, denn das von Marx nur angedeutete Verhältnis impliziert Gewalt. Ob man ein Arbeitszeitgeld für notwendig hält oder nicht: Solange es auch nur von einigen wichtigen Gütern weniger gibt, als gebraucht wird, ist vorausgesetzt, dass es Instanzen gibt, die Menschen daran hindern, sich einfach zu nehmen, was sie wollen, Instanzen, die mit entsprechenden Machtmitteln ausgestattet sein müssen.
Es war naheliegend, dass die realsozialistischen Führungen das Marx’sche Phasenmodell als Rechtfertigungsfigur nutzten. Die realsozialistischen Länder waren immer von überlegenen Gegnern umgeben, die Produktivkraft vergleichsweise niedrig, und so wurde ­jeder Konsumverzicht und jede Form staatlicher Gewalt damit gerechtfertigt, dass man leider noch darauf angewiesen sei, mit Hilfe solcher Mittel den Kommunismus auf den Weg zu bringen. Giessler zeichnet die atemberaubend menschenverachtenden Konsequenzen dieser Politik und der sie bemäntelnden Theorie minutiös nach.

Mit dieser Kritik steht Giessler in linksradikaler Gesellschaft nicht allein. Kommunisten, denen der emanzipa­tive Gehalt der kommunistischen Perspektive am Herzen liegt, würden um nichts in der Welt zum Realsozialismus zurückkehren wollen. Seit 100 Jahren bereits sucht die radikale Linke deshalb Anknüpfungspunkte bei den Abweichlerinnen: bei den linken Oppositionen im Parteikommunismus, bei den von Leninisten und Stalinisten verfolgten Anarchistinnen, Syndikalisten und Anarchokommunisten, bei den Kaltgestellten, den Außenseitern, seien es holländische Rätekommunisten oder sei es der bereits 1926 aus der KPD aus­geschlossene Karl Korsch. War es nicht ein Zuwenig an Kommunismus, das den Realsozialismus so unattraktiv machte – und damit letztlich auch zum Scheitern verurteilte? War nicht gerade das Vertrauen auf Geld und Gewalt die Ursünde aller praktischen Versuche, mit dem Kommunismus ernst zu machen?

Nein, sagt Giessler. Der Realsozialismus habe »insbesondere dort totalitäre Züge ausgeprägt, wo seine Versuche am entschlossensten waren, in den Kommunismus zu gelangen«. Der weitgehend geldlose Kriegskommunismus der Jahre 1917 bis 1920: Mord und Totschlag. Die Kollektivierung der Landwirtschaft Ende der zwanziger Jahre: ebenso. Auch Maos »Großer Sprung nach vorn«, der China schneller in den Kommunismus bringen sollte, kostete Millionen Menschen das Leben.

Giessler legt nahe, dass es für Kommunisten nach der Revolution genau zwei Optionen gebe: entweder sich auf den erwähnten Vorkommunismus einzulassen, der auf widersprüchliche Weise versucht, dem Eigennutz der »Massen« durch ökonomische Kategorien wie Lohn, Preis und Geld gerecht zu werden, der für die Menschen harte Arbeit bedeutet, wenig Konsum – und einen Staat, der das Ganze brutal überwacht. Oder aber auf die »Massenini­tiative« zu vertrauen, auf das unmittelbare Zusammenwirken ohne Interessengegensätze, auf den direkten Einstieg in den Kommunismus. Der moralische Appell träte hier an die Stelle vermittelnder Institutionen. Als Beispiel zitiert Giessler Che Guevara, der unter einem Revolutionär einen Menschen verstand, der sich »unwohl« fühle, »wenn er kein Opfer bringt«. Und immer folge dann der Zwang, die nackte Gewalt, dem moralischen Anspruch auf dem Fuße, um durchzusetzen, was die Menschen doch selbst hätten wollen müssen.

Der Kommunismus, so Giessler in seinem Nachwort, habe »mit Hochmut angesetzt« und sei »kläglich gescheitert«. Und solange der Linken nichts Besseres einfalle, bleibe nicht viel mehr, als »die Errungenschaften innerhalb der kapitalistischen Gesellschaft zu verteidigen«. Tschüss, Commune!

 

Sozialdemokratisch werden?
Was Giessler schreibt, ist zwar im Detail fast immer richtig, in der Gesamtbetrachtung aber schief. Warum und nach welchen Kriterien kooperieren Menschen mit anderen? Das ist eine für jede Gesellschaft entscheidende Frage, insbesondere für eine kommunistische, die Kooperationsgründe wie Not oder Herrschaft durch die freie Entscheidung ersetzen soll. Bei Giessler gibt es zwei Gründe, weshalb Menschen kooperieren: das Eigeninteresse und die Moral. Letztere besteht bei Giessler darin, dass Menschen zugunsten einer Allgemeinheit gegen ihr Einzelinteresse handeln.

Es ist kein Zufall, dass Giessler Autoren wie Friedrich August von Hayek und Ludwig von Mises heranzitiert, Ahnherren des Neoliberalismus. Das Menschenbild, das hier durchscheint, ist das liberale Ideal des homo oeconomicus, eines Einzelnen, der permanent zum Zwecke der Nutzenmaximierung kalkuliert. Tun Menschen das nicht oder werden sie auf der Ebene der Solidarität an­gesprochen, droht dieser Sichtweise zufolge sofort das Opfer, die Selbst­aufgabe.

Dass Menschen gerne mit anderen zusammenarbeiten könnten, kommt bei Giessler nur als Propagandalüge realsozialistischer Funktionäre vor. Es stimmt ja auch: In der Geschichte des Realsozialismus handelte es sich meistens um Propaganda. Aber muss das immer so sein?

»Moral« und »Interesse« stehen sich in der Realität nicht ausschließend gegenüber, sondern Menschen sind bereit, für ein Kollektiv, dessen Prinzipien sie verstehen, auch einmal auf die unmittelbare Durchsetzung ihrer nächsten Interessen zu verzichten – wenn es eben nicht auf ein zu großes Opfer hinausläuft und sie den Eindruck haben, dass Lasten und Nutzen halbwegs gleich verteilt sind. Die Frage ist nur, ob die Prinzipien der Gesellschaft tatsächlich einsehbar sind. Für den Realsozialismus galt das meistenteils nicht. Aber was folgt daraus für zukünftige revolutionäre Vorhaben?

In der Darstellung kommunistischer Geschichte und Theoriegeschichte ist Giessler selektiv. All das Böse, Menschenverachtende, Allmachtsphantastische breitet er aus, gerade in Äußerungen von Autoren und Autorinnen, die als Oppositionelle in der heutigen Linken einen halbwegs guten Ruf genießen. Die emanzipativen Momente, die man bei vielen der Autoren ebenfalls findet – etwa im »ABC des Kommunismus« der später hingerichteten Bolschewiki Nikolaj Bucharin und ­Jewgenij Preobraschenskij –, lässt er weg. Das ist in Ordnung, Giessler geht eben da hin, wo es weh tut, ihm selbst wahrscheinlich am meisten. Allerdings kann er mit dieser Herangehensweise die Widersprüchlichkeit der ­jeweiligen Positionen nicht herausarbeiten und stellt die Genese des real­sozialistischen Schreckens als zwangsläufiger dar, als sie war – weswegen er dann auch mehr von der kommunistischcen Tradition über Bord wirft (nämlich fast alles), als nötig wäre.

Um aus der Geschichte des Realsozialismus Konsequenzen für zukünftige Befreiungsversuche ziehen zu können, müsste man ins historische Detail gehen, was Giessler nur an wenigen Stellen tut. Ein Beispiel: Die verheerenden Konsequenzen linkskommunistischer Politik zeigt Giessler anhand der Bauernpolitik der Bolschewiki, die den Güteraustausch zwischen Industrie und Landwirtschaft zeitweise in einem Kriegszug gegen die Landbevölkerung erzwangen. Das aber hatte weniger mit allgemeinen linkskommunistischen Grundsätzen zu tun als damit, dass die Bolschewiki auch schon vor der Revolution nur wenige Bauern organisiert hatten und auf dem Land in manchen Regionen praktisch gar nicht präsent waren. Wenn überhaupt, dann waren Bauern mit der Partei der Sozialrevolutionäre verbunden, die auf der Konferenz der Bauernräte im Mai 1917 die große Mehrheit der Delegierten stellte. Die Sozialrevolutionäre standen der Politik der Bolschewiki mehrheitlich ablehnend gegenüber, ihre Mitglieder wurden ab Mitte 1918 als Revolutionsgegner verfolgt. All das hatte Auswirkungen darauf, ob und wie ländliche Komitees nach der Revolution in poli­tische Entscheidungs- oder auch nur Kommunikationsprozesse einbezogen wurden – beziehungsweise nicht einbezogen wurden. Das ist nicht als Verteidigung der Bolschewiki gemeint. Aber was nach einer zukünftigen Revolution grundsätzlich möglich wäre und was nicht, ist nicht sinnvoll aus solchen sehr spezifischen historischen Beispielen zu extrapolieren.

Wenn überhaupt, dann zeigt die ­realsozialistische Geschichte, dass eine Minderheitenrevolution für einen emanzipativen Kommunismus unlösbare Probleme mit sich bringt. Auch in den »sozialistischen Bruderländern« nach 1945 waren die Kommunisten in der Minderheit. Das bedeutet selbstverständlich nicht, dass diese leninistischen Parteiführungen unter günstigeren Bedingungen einen »Verein freier Menschen« verwirklicht hätten. Aber dass sie über weite Strecken in Angst vor der eigenen Bevölkerung lebten, die dementsprechend rigide überwacht und gemaßregelt wurde, hatte weniger mit Konzepten von Kommunismus als mit der historischen Situation zu tun.

Insofern zeigt Giessler ausführlich die praktischen und theoretischen Fallen auf, in denen Kommunistinnen sich zu verfangen drohen – die Unmöglichkeit eines »Vereins freier Menschen« beweist er nicht.

 

Eine Leerstelle im Räte- und Linkskommunismus

Warum Giesslers Buch notwendig ist, zeigte sich auf der Diskussionsveranstaltung in Leipzig. Auch der Text der »Freundinnen und Freunde der klassenlosen Gesellschaft« über die »Weltcommune« reflektiert die Erfahrungen aus der Kommunismusgeschichte. Die Verfasser sehen in Anlehnung an Anton Pannekoek Räte als die Kerninstitution einer vernünftigen Gesellschaft an, Gremien, in denen Menschen, »die an einem bestimmten Ort arbeiten oder leben, über ihre gemeinsamen Angelegenheiten gemeinsam beratschlagen, sie praktisch gestalten und sich mit anderen durch jederzeit absetzbare Delegierte abstimmen«. Die »Freundinnen und Freunde« erteilen dem Staat und seinen Machtmitteln ebenso eine Absage wie den Marx’schen Stundenzahlungszetteln, sie gestehen zu, dass man eine grobe Arbeitszeitrechnung bräuchte, um überhaupt zu wissen, welche Produktionsmittel sinnvoller sind als andere, halten aber eine gesellschaft­liche Planung in Gebrauchswerten für sinnvoll, also nicht in Preis- oder Zeiteinheiten. Das alles ist in weiten Teilen klug und in noch größeren Teilen sympathisch. Dennoch bleibt nach der Lektüre eine gewisse Unzufriedenheit, der Eindruck, dass der Text, so konkret er auch ist, kaum in Verbindung zur ­gesellschaftlichen Gegenwart gesetzt werden kann.

In der Diskussion zwischen den »Freundinnen« und Hannes Giessler ging es überraschenderweise lange Zeit vor allem um Nebensächlichkeiten. Die Arbeitszeitrechnung, die Stundenzettel – und bräuchte man nicht im Kommunismus eine ganz neue Technologie, deren Gestalt nicht von den ausbeuterischen Zwecken des Kapitalismus bestimmt ist? Ja, klar. Aber angesichts der anderen Probleme, die der Kommunismus mit sich bringt, wäre es ja schon mal ein großer Schritt, die Fließbänder langsamer laufen zu lassen, den Arbeitstag zu verkürzen und den Arbeiterinnen in den Produktionsstätten das Sagen zu geben.

Gegen Ende der Debatte wurden die zentralen Probleme immerhin angedeutet. Um einen Produktionsprozess zu planen, in den zum Beispiel eine überregionale Eisenbahn, ein Hafen, verschiedene Rohstoffquellen und das Ausbildungswesen einbezogen sind, braucht es Kenntnisse, die an den einzelnen Produktionsorten nicht vorliegen. Was bedeutet das für die Arbeit von Räten? Die »Freundinnen und Freunde« deuten das Problem in ihrem Text an, lassen es aber gleich wieder fallen und vermitteln die Hoffnung, dass es um so viele Fälle nicht gehen möge. Wirklich überzeugend ist das nicht.

Giessler wiederum spricht aus, welche Konsequenz er für eine Planwirtschaft sieht: eine Vielzahl von Verwaltungsfunktionen, »nicht nur solche, die jetzigen Staatsfunktionen analog wären, sondern auch solche, die neu hinzu kämen und mehr Staat (oder Institutionen, die diesem analog sind) erforderten«.

Nun kann man sich trefflich streiten über Möglichkeiten und Grenzen einer regionalisierten Produktion, die zentrale Kompetenzen näher zu den Produzenten holt. Aber das »Staatsproblem« ist viel umfassender. Ist das, was in einer Fabrik passiert, nur von den dort Arbeitenden zu bestimmen? Geht es nicht auch Konsumenten, Anwohnerinnen, Leute in der Zulieferindustrie an? Wie geht man mit Interessengegensätzen um? Kann zum Beispiel ein Patientenrat auf Augenhöhe mit den Arbeiterinnen einer Arzneimittelfabrik über schnellere Lieferungen oder Qualitätsverbesserungen verhandeln?

Was bei den »Freundinnen und Freunden« erkennbar wird, im Text wie in der Diskussion, ist die Sehnsucht nach der Auflösung aller Widersprüche, der Wunsch, mit einem po­litischen Akt wie einer Revolution nicht nur der Gesellschaft eine ökonomische Grundlage zu geben, die we­niger absurd als der Kapitalismus ist, sondern zugleich mit der Ausbeutung auch jede Herrschaft zu überwinden, alle Macht, am besten jede Form von Gewalt. Das ist eine Überfrachtung des Revolutionsbegriffs und ein frommer Wunsch. Dass diese Tendenz Texten wie dem über die »Weltcommune« anzumerken ist, gibt ihnen eine Entrücktheit, die ihrer Überzeugungskraft nicht zuträglich ist.

Giessler deckt solche frommen Wünsche gnadenlos auf, weswegen sich die Lektüre seines Buchs auch dort lohnt, wo er nicht recht hat. Wenn er sagt, dass der Kommunismus staatsähnliche Institutionen brauche, denkt er wahrscheinlich an so etwas wie die staatliche Plankommission der DDR plus Nationale Volksarmee. Das offenbart, wenn der Eindruck nicht trügt, ­einen Mangel an utopischem Sinn, und es liegt nahe, dass er dann lieber dem Kommunismus abschwört. Doch nur, wenn man dem argumentativ etwas entgegenzusetzen hat, kann man heute noch Kommunist sein.

Eine gesamtgesellschaftliche Planung, die letztlich Weltmaßstab annimmt, ist ohne ein hierarchisches Verhältnis zwischen Institutionen nicht denkbar. Es muss Institutionen geben, die Informationen sammeln, auswerten und verbreiten (alleine das ist schon Macht) und die in Streitfällen verbindliche Entscheidungen treffen, zumindest so lange, bis die gesellschaft­liche Diskussion hinterhergekommen ist. Was die Institutionen jeweils dürfen, muss kodifiziert sein, und das nennt man dann Recht.

Die Geschichten aus dem nachrevolutionären Russland, wie Giessler sie noch einmal erzählt, von Bewaffneten, die mit dem Gewehr in der Hand Lebensmittel aus den Dörfern holen, wenn die Dorfkomitees das Getreide nicht herausrücken, sind eine unpassende Bebilderung solcher sinnvollen Unter- und Überordnungsverhältnisse. Wer sich nicht vorstellen kann, dass Gremien mit unterschiedlichen Entscheidungskompetenzen miteinander agieren können, ohne im Konfliktfall die Rote Armee zu rufen, sollte nicht bloß Russland 1918 studieren, sondern die Arbeitsteilung beispielsweise zwischen Landkreisen und Gemeinden im Sauerland anschauen. Okay, kleiner Scherz, aber es ist was Wahres dran.

Auf dieser Grundlage könnte es dann um die wichtigen Fragen gehen: Wenn Gesellschaftlichkeit notwendig mit Macht über Menschen einhergeht und auch der Kommunismus deshalb keine machtfreie Gesellschaft sein kann – wie ist diese Macht besser als im Kapitalismus zu verteilen und zu kon­trollieren? Welche Instrumente der Gewaltenteilung, der checks and balances sind für einen »Verein freier Menschen« geeignet? Von Ämterrotation über das imperative Mandat bis zur Wählbarkeit aller Funktionsträger gibt es unzählige Konzepte, die unter kapi­talistischen Bedingungen keine Chance haben und auch im Realsozialismus nie eine hatten, weil sie ihrem Gehalt nach Sand im Getriebe sind und ökonomischen wie politischen Konkurrenzbedingungen nicht standhalten. Eine Revolution, die zuallererst das »automatische Subjekt« (Marx), die Kapital­verwertung, aus der Welt schaffte, würde für solche Konzepte erstmals Entfaltungsraum schaffen.

Das wäre vielleicht nicht die endgültige Versöhnung mit allem – aber schon eine ganze Menge.